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18.Sep 2018
Helga Kühn-Mengel
Wer beim Jobcenter einen Termin verpasst, bekommt weniger Geld. Von den 3.757 Sanktionen, die gegen Hartz IV-Bezieher im Rhein-Erft-Kreis verhängt wurden, sind 62,8 Prozent auf Meldeversäumnisse beim Jobcenter zurückzuführen. Das ist völlig unverhältnismäßig, kritisiert die Freie Wohlfahrtspflege im Rhein-Erft-Kreis.
In der Debatte um die Sanktionierung von Hartz IV-Beziehern hat die Freie Wohlfahrtspflege NRW erstmals Zahlen für Nordrhein-Westfalen ausgewertet. Der aktuelle Arbeitslosenreport zeigt auf, dass es im Rhein-Erft-Kreis im vergangenen Jahr knapp 3.757 neu ausgesprochene Sanktionen gab. Jeden Monat waren hier rein rechnerisch rund 635 Hartz IV-Empfänger von mindestens einer Leistungskürzung betroffen. Diese Zahl liegt in der Jahressumme, für die die Bundesagentur für Arbeit keine Statistik vorlegt, jedoch weit höher. Die Freie Wohlfahrtspflege im Rhein-Erft-Kreis bemängelt das Fehlen dieser Daten, schließlich werden monatlich nicht immer dieselben Personen sanktioniert.
NRW-weit sind 78 Prozent der rund 220.000 neu ausgesprochenen Sanktionen im Jahr 2017 auf Meldeversäumnisse beim Jobcenter zurückzuführen. Die gleiche Tendenz ist auch im Rhein-Erft-Kreis festzustellen: Rund 62,8 Prozent der Sanktionen erfolgte, weil vom Jobcenter angeordnete Termine nicht eingehalten wurden. Nur etwa 9,2 Prozent der Maßregelungen wurden ausgesprochen, weil sich die Betroffenen weigerten, eine Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme aufzunehmen oder fortzuführen. „Gemessen an der Schwere der Verstöße sind die Leistungskürzungen deutlich zu hoch“, kritisiert die Vorsitzende des Arbeiterwohlfahrt Regionalverbandes Rhein-Erft & Euskirchen e. V., Helga Kühn-Mengel. „Sie führen dazu, dass die Menschen tiefer in Notlagen abrutschen.“
Nach Erfahrungen der Wohlfahrtsverbände werden viele Hartz IV-Bezieher sanktioniert, die von psychischen Beeinträchtigungen, Suchterkrankungen, funktionalem Analphabetismus oder interkulturellen Verständigungsschwierigkeiten betroffen sind. Die harten Sanktionen erreichen selten das Ziel, die Betroffenen zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Jobcenter zu bewegen und sie auf den Arbeitsmarkt zu bringen. Sie benötigen vielmehr eine Beratung und Unterstützung, die Rücksicht auf ihre individuelle Situation nimmt.
Zehn bis 60-prozentige Kürzungen des Regelsatzes, der ohnehin nur das Existenzminimum sichert, bedeuten für Hartz IV-Bezieher eine Katastrophe. Das Geld reiche dann nicht mehr für eine Zeitung, ein Buch oder ein Busticket. Bei höheren Kürzungen sei schnell das pure physische Existenzminimum bedroht, so die Vorsitzende des Arbeiterwohlfahrt Regionalverbandes Rhein-Erft & Euskirchen e. V., Helga Kühn-Mengel.
Auch zeigen die Daten, dass Hartz IV-Bezieher unter 25 Jahren überdurchschnittlich stark von Sanktionen betroffen sind, da ihr Regelsatz bei einer Pflichtverletzung komplett entfällt. Bei unter 25-Jährigen ist es gesetzlich erlaubt, bereits beim ersten Verstoß Leistungen soweit zu kürzen, dass nur noch die Kosten für Unterkunft und Heizung gedeckt sind. Im Wiederholungsfall wird oft gar kein Geld mehr gezahlt. 2017 wurde Hartz IV-Beziehern unter 25 Jahren im Rhein-Erft-Kreis die monatliche Gesamtregelleistung durchschnittlich um 166 Euro gekürzt. Die besonders drastischen Sanktionen für Jugendliche führen dazu, dass sich deren prekäre Lebenslagen zuspitzen. Viele Jugendliche brechen nicht nur den Kontakt zum Jobcenter ab, sondern „verschwinden“ in sozialer Isolation, Kleinkriminalität, Schwarzarbeit, Suchtmittelkonsum oder Verschuldung.
Damit nicht noch mehr junge Menschen verloren gehen, fordert die Freie Wohlfahrtspflege NRW die umgehende Abschaffung der besonders scharfen Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige. Eine Forderung, die auch durch eine aktuelle Online-Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gestützt wird. Darin lehnt die Mehrheit der Befragten härtere Sanktionen für unter 25-Jährige ab.
Ob die Kürzung des Arbeitslosengeldes II mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbart ist, prüft derzeit das Bundesverfassungsgericht. Noch für das laufende Jahr 2018 hat es ein Urteil angekündigt, das die Freie Wohlfahrtspflege NRW mit Spannung erwartet. „Die Grundsicherung ist mehr als eine arbeitsmarktpolitische Leistung. Sie umfasst das, was Menschen zum Leben bleibt, wenn alle Stricke reißen“, betont die Vorsitzende des Arbeiterwohlfahrt Regionalverbandes Rhein-Erft & Euskirchen e. V. „Es geht hier um nicht weniger als die grundsätzlich geschützte Würde des Menschen.“
Hintergrund:
Die Wohlfahrtsverbände in NRW veröffentlichen mehrmals jährlich den „Arbeitslosenreport NRW“. Basis sind Daten der offiziellen Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Hinzu kommen Kennzahlen zu Unterbeschäftigung, Langzeitarbeitslosigkeit und zur Zahl der Personen in Bedarfsgemeinschaften, um längerfristige Entwicklungen sichtbar zu machen. Der Arbeitslosenreport NRW sowie übersichtliche Datenblätter mit regionalen Zahlen können im Internet unter www.arbeitslosenreport-nrw.de heruntergeladen werden. Der Arbeitslosenreport NRW ist ein Kooperationsprojekt der Freien Wohlfahrtspflege NRW mit dem Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM) der Hochschule Koblenz.
In der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege NRW haben sich 16 Spitzenverbände in sechs Verbandsgruppen zusammengeschlossen. Mit ihren Einrichtungen und Diensten bieten sie eine flächendeckende Infrastruktur der Unterstützung für alle, vor allem aber für benachteiligte und hilfebedürftige Menschen an. Ziel der Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege NRW ist die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit in Nordrhein-Westfalen und die Sicherung bestehender Angebote. Die Freie Wohlfahrtspflege NRW weist auf soziale Missstände hin, initiiert neue soziale Dienste und wirkt an der Sozialgesetzgebung mit.
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